P. Stadler: Epochen der Schweizergeschichte

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Titel
Epochen der Schweizergeschichte.


Autor(en)
Stadler, Peter
Erschienen
Zürich 2003: Orell Füssli Verlag
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Aram Mattioli, Historisches Seminar der Universität Luzern

Gewiss, einen Königsweg der Erkenntnis kann und darf es in den Geschichtswissenschaften nicht geben. Denn die «Wissenschaft von den Menschen in der Zeit» (Marc Bloch) ist eine grundsätzlich pluralistische Disziplin, die ihre Attraktivität wesentlich aus dem kontrollierten Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Ansätze, Methoden und Interpretationen bezieht. Doch dies bedeutet nicht, dass in unserem Fach nach dem Prinzip des «anything goes» verfahren werden kann und alles schon ein bewundernswürdiges Meisterwerk ist, was aus der Schreibstube eines altgedienten Professors stammt. Geschichtsschreibung, die einen wissenschaftlichen Anspruch geltend macht, bleibt stets an elementare methodische Standards und gewisse epistemologische Voraussetzungen gebunden. So kann sie sich nicht anders als ein umfassendes Bemühen entwerfen, geglaubte Überlieferung immer wieder von neuem zu überprüfen und durch bewusstes Wissen zu ersetzen. Wenn aber die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft in der ständigen, nie zum Abschluss kommenden Überprüfung und Korrektur bisheriger Geschichtsdeutungen besteht, muss sich diese nicht nur um neue tragfähige Sichtweisen (I.) bemühen und sich dabei am gegenwärtigen Forschungsstand (II.) orientieren, sondern braucht sie auch Distanz zu den politischen Leidenschaften der Gegenwart (III.). All dies lässt das neueste Werk von Peter Stadler schmerzlich vermissen.

(I.) Das flüssig geschriebene Buch des Zürcher Emeritus unternimmt den kühnen Versuch, die Schweizer Geschichte der letzten 2200 Jahre in gut lesbarer Form auf 382, reich bebilderten Seiten darzustellen. Es versteht sich als «Lesebuch» (S. 365) und implizit wohl auch als schweizergeschichtliche Summe eines langen Historikerlebens. Der dominierende Eindruck, den diese Gesamtdarstellung nach der Lektüre hinterlässt, besteht darin, dass hier inhaltlich und konzeptionell nichts Neues, geschweige denn Innovatives geboten wird. Was ist der Grund dafür? Sicher nicht die Textgattung, wie die grossartigen Synthesen aus der Feder von Eduard Fueter, Thomas Nipperdey oder Eric J. Hobsbawm beweisen. All jene, die mit den Traditionen des Fachs nur einigermassen vertraut sind, werden bei der Lektüre von Peter Stadlers «Epochen der Schweizergeschichte» schnell feststellen, dass diese Darstellung bis in einzelne Begriffe, Erzählmuster, Kapitelüberschriften, Illustrationen und Deutungen hinein dem nationalgeschichtlichen Narrativ verpflichtet ist, das seine Blütezeit zwischen 1880 und 1960 erlebte. Wie Heerscharen von Historikern vor ihm erzählt Peter Stadler die Schweizer Geschichte als Ausnahmefall (S. 9) und damit als hochpolitische Befreiungs- und nationale Selbstbehauptungsstory, die vom antihabsburgischen Bund von 1291 bruchlos und gleichsam naturnotwendig zum Bundesstaat von 1848 geführt habe (S. 38, 40, 45, 46). Bekanntlich dreht sich diese reichlich in die Jahre gekommene Interpretation um Haupt- und Staatsaktionen, die «immerwährende» Neutralität (S. 192f.) und nationale Symbolfiguren (S. 10), darunter offenbar auch Wilhelm Tell (S. 40) und Winkelried (S. 58). Was diese Lesart heute problematisch macht, ist die Eindimensionalität ihres Tunnelblicks. So beruht die Darstellung schon rein geographisch auf einer weitgehend auf die deutsche Schweiz (Innerschweiz, Zürich, Bern) eingeschränkten Perspektive, die sich nicht für die unterschiedlichen Entwicklungspfade in den verschiedenen Landesteilen und Territorien interessiert und auch die europäische Dimension des Themas unterschlägt. Vieles bleibt in diesem oft fahrig durch die Jahrhunderte eilenden Parforceritt unterbelichtet oder fällt für die Zeit der Alten Eidgenossenschaft ganz weg: etwa die einschneidenden Veränderungen im Naturraum, die Überlebensstrategien der einfachen Leute, die oft drückende Situation in den Untertanengebieten, die Geschlechterordnung, die Volksfrömmigkeit, die Strukturen der Ungleichheit in der ständischen Privilegiengesellschaft und der sich anbahnende Gestaltwandel des Politischen, um nur diese Felder exemplarisch zu nennen. Ein Sensorium für die Zäsuren, regionalen Verschiedenheiten, die Ungleichzeitigkeiten und Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lässt sich nicht einmal im Ansatz finden. Aus einer allzu affirmativen Grundhaltung heraus wird auch die Geschichte der modernen Schweiz konventionell und einseitig konzentriert auf die sich in allen Krisen und Kriegen bewährende Nation und die wenigen «Grossen» des Geisteslebens thematisiert. Was hier vorliegt, ist nationalhistorisches Recycling der uninspirierten Art, präziser: eine schlechte Kopie.

(II.) Gerade Gesamtdarstellungen mit dem für sie charakteristischen Syntheseanspruch können und dürfen es sich nicht leisten, den jeweiligen Forschungsstand zu ignorieren. Gemeint ist damit freilich nicht, dass der Stand des jeweiligen Irrtums das Mass aller Dinge wäre, vor dem man als Autor in blinder Ehrfurcht erstarren müsste. Von einem Historiker kann heute jedoch zu Recht erwartet werden, dass er Forschungsdiskussionen gerade dort referiert, wo kontroverse Ansichten bestehen, und, wenn er der dominierenden Sicht der Dinge nicht folgen will, empirisch gestützte und wissenschaftlich plausible Gegenargumente entwickelt. Das scheint Peter Stadler in seinem Alterswerk nicht für notwendig zu erachten. Wenn man der Darstellung unkritisch folgt, drängt sich dem Leser unweigerlich der Eindruck auf, dass es seit den späten 1960er Jahren im Bereich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte keine entscheidenden Erkenntnisfortschritte mehr gegeben hat. Jedenfalls fliessen viele der zentralen Neuinterpretationen der vergangenen Jahrzehnte nicht oder nur sehr punktuell in die Darstellung ein. Damit wird die Arbeit von mindestens zwei Historikergenerationen (zum Beispiel die Forschungen von Rudolf Braun, Markus Mattmüller, Bernhard Stettler, Guy P. Marchal, Roger Sablonier, Peter Blickle und Christian Pfister, um nur diese zu erwähnen) leichtfüssig übergangen und implizit für verzichtbar erklärt. Ausgesprochen selektiv ist der Umgang mit der Sekundärliteratur auch für das 19. und 20. Jahrhundert, wo vor allem die Doktoranden des Zürcher Emeritus zitiert, aber die wichtigen Studien eines Hansjörg Siegenthaler oder einer Beatrix Mesmer keiner Erwähnung für wert befunden werden. Nach dem Motto «Verachtet mir die alten Meister nicht» feiern dafür in der Fachwelt kaum mehr zitierte Historiker aus dem späten 19. Jahrhundert und dem frühen 20. Jahrhundert eine kaum für möglich gehaltene Auferstehung: Johannes Dierauer, Wilhelm Oechsli und Richard Feller insbesondere, aber auch viele andere. Faktisch läuft all dies auf ein Lob des historiographischen Stillstands hinaus.

(III.) Schon vor mehr als dreissig Jahren hat Herbert Lüthy einmal scharfsinnig bemerkt, dass die Vertreter des nationalgeschichtlichen Paradigmas dazu tendieren, die Schweizer Geschichte als Sammlung von Verhaltensmodellen aufzufassen, auf die die Nachlebenden auf immer und ewig verpflichtet wären. Mit diesem nationalpädagogischen Anspruch tritt auch Stadlers Buch auf. Es liest sich über weite Passagen als Totengesang auf die «gute, alte Schweizerzeit». Aus Stadlers Zeilen spricht das offene Bedauern darüber, dass sich die Schweiz von heute nicht mehr als jene Schicksalsgemeinschaft definiert wie noch im Zweiten Weltkrieg. «Doch die Erinnerung an die Kriegsjahre», heisst es an einer bezeichnenden Stelle, «wird gerade in letzter Zeit wieder wachgerufen und mit kollektiven Schuldgefühlen belastet, die den ersten Nachkriegsjahren abgingen, da man froh war, überlebt zu haben – überlebt dank der Neutralität und dank der Armee, die sie beschützt hatte» (S. 347). Je näher der Autor in die Gegenwart vorstösst, desto mehr verdüstert sich das Bild und desto mehr geht die Distanz verloren. Als älterer Historiker des Jahrgangs 1925 nehme er sich das Recht heraus, nicht zu allen «Verirrungen der Gegenwart» Ja und Amen zu sagen, wird im Schlusswort freimütig eingeräumt (S. 365). Alarmistisch im Ton und schrill in der Wertung werden die Ausführungen stets dann, wenn Peter Stadler auf die «Überfremdungs-» und die Asylthematik zu sprechen kommt, die er zur realen Gefahr für den Fortbestand der Schweiz aufbauscht. Jedenfalls hat seit den Tagen des Freiburger Rechtsintellektuellen Gonzague de Reynold kein Geschichtsprofessor dem Land den verdienten Untergang für den Fall prophezeit, dass die Entwicklung zu einem «buntscheckigen (als multikulturell schöngeredeten) Völkergemisch in einem überfüllten Land» (S. 364) nicht umgehend rückgängig gemacht werde. Nicht genug damit: Für die angebliche «Asylbewerber-Flut» wird die bisherige Zürcher Polizeidirektorin Rita Fuhrer als «wissenschaftliche» Gewährsperson angeführt (S. 357). Peter Stadler sieht in der Schweiz des beginnenden 21. Jahrhunderts alle Dämme brechen und holt in den Schlussabschnitten zu einer verquasten Gegenwartsklage aus, die keinen Topos des nationalkonservativ geprägten Zeitgeistes auslässt (S. 356ff., 362ff.). Kläglich, dass er sogar über die Antirassismus-Strafnorm herziehen muss, der er vorhält, dass sie die offene Erörterung von wahren Problemen erschwere. Offenbar scheint er noch nicht bemerkt zu haben, dass sie nur öffentlich vorgetragene rassistische Behauptungen unter Strafe stellt. Nach all dem wird man nicht behaupten können, dass dieser Autor die Schweiz mit wissenschaftlicher Abgeklärtheit sieht.

Die Gesamtbilanz fällt durch und durch niederschmetternd aus. Dieses Buch ist ein einziges Ärgernis, weil es gegen elementare Regeln wissenschaftlichen Arbeitens verstösst. Es dient nicht der Selbstaufklärung der Gesellschaft, sondern läuft auf ein bizarres Ahnengedenken und die Beschwörung erfundener Traditionen hinaus. Ob bewusst oder unbewusst, in dieser SVP-nahen, von der EMS Chemie mitfinanzierten Geschichtsfibel wird der vielstimmigen und komplexen Vergangenheit des Landes Gewalt angetan.

Zitierweise:
Aram Mattioli: Rezension zu: Peter Stadler: Epochen der Schweizergeschichte. Zürich, Orell Füssli, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 335-337.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 335-337.

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